Interview mit Pavlo Shvarts, Bischof der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine
(LWI) – Dieses Interview wurde in der letzten Januarwoche 2023 in Charkiw mit Bischof Pavlo Shvarts geführt. Es fand in einem der so genannten Wärmepunkte statt, die vom Lutherischen Weltbund (LWB) und der DELKU finanziell unterstützt werden. In der Turnhalle einer Schule können sich die Menschen aufwärmen, ihre Handys aufladen und manchmal auch eine warme Mahlzeit erhalten.
An diesem Tag aber war niemand dort; es war einigermaßen warm in Charkiw, die Sonne schien und für den Moment gab es sogar Strom.
Beschreiben Sie bitte kurz die aktuelle Lage in Charkiw.
Abgesehen von den Raketenangriffen auf die kritische Infrastruktur, ist die Lage in der Stadt seit einigen Monaten relativ stabil. Es leben rund eine Million Menschen hier, und das meiste in der Stadt funktioniert. Eine Ausnahme ist der nördliche Teil der Stadt, der sehr unter dem Krieg und den Angriffen mit Raketen und anderen Waffen gelitten hat.
Wie geht es den Menschen nach einem Jahr Angriffskrieg?
Die Situation in Charkiw stellt sich etwas anders dar als in anderen Teilen der Ukraine, weil viele Menschen Verwandte jenseits der Grenze haben, zum Beispiel im russischen Belgorod. Das führt zu einer emotional schwierigen Situation, weil Charkiw und das Umland regelmäßig von Belgorod aus beschossen werden. Der Angriff des einen Landes auf das andere führt also auch zu Spannungen innerhalb von Familien. Ein Teil der Familie ist dort, der andere hier – das war und ist immer noch sehr schwierig. Einige Familien sind daran zerbrochen; sie reden nicht einmal mehr miteinander. Derartige Brüche in Familien sind ein ernstes Problem, denn deren Überwindung und Bewältigung wird Jahrzehnte dauern.
Das Leben hier scheint weiterzugehen und Menschen nach Charkiw zurückzukehren. Was gibt ihnen Ihrer Ansicht nach die Kraft dazu?
Die Menschen kehren aus ganz unterschiedlichen Gründen in die Stadt zurück. Einige, weil ihre Häuser nicht zerstört wurden und sie hier damit eine Möglichkeit haben, zu leben und zu arbeiten. Wenn man außerhalb von Charkiw ein Haus mieten muss, entstehen ja zusätzliche Kosten. Ein anderer Grund ist einfach der Wunsch, in die Heimatstadt zurückzukehren und gewissermaßen in die Zeit vor dem Krieg.
Ich höre ganz unterschiedliche Berichte, was den Menschen in dieser Zeit Kraft gibt. Bei religiösen Menschen ist es natürlich ihr Glaube und das Gefühl der Verbundenheit in einer Gemeinde. Aber alle müssen versuchen, einen Weg für sich zu finden. Auch wenn das leider nicht immer einfach ist. Viele Menschen leiden an Depressionen. Es ist sehr schwierig, all das, was emotional passiert, zu verarbeiten.
Wie ist die Lage in den Kirchengemeinden der DELKU?
Wir sind eine kleine Kirche: Einige Mitglieder unserer Gemeinden sind in andere Städte in der Ukraine geflohen, andere sind ins Ausland gegangen. Wir versuchen, den Kontakt zu beiden Gruppen aufrechtzuerhalten, aber begrüßen auch neue Menschen in unseren Gemeinden. Ganz streng trennen wir die humanitäre Hilfe, die wir leisten, von den Gottesdiensten, denn wir wollen nicht, dass sich die Menschen verpflichtet fühlen, am Gottesdienst teilzunehmen.
Als Kirche organisieren wir Zusammenkünfte und Gottesdienste, damit die Gemeinden wie Selbsthilfegruppen funktionieren, in denen sich die Menschen gegenseitig unterstützen. Parallel binden wir die Menschen in unsere Aktivitäten ein, damit sie nicht das Gefühl haben nur Almosen zu empfangen, sondern im Gegenzug auch etwas tun können: zum Beispiel Lieferungen ausladen oder Hilfsgüter an andere verteilen.
Wir leisten humanitäre Hilfe vornehmlich in Form einer Direkthilfe. Wir verteilen sie nicht in großen Mengen. Sondern wir schauen, wo es persönliche Kontakte gibt, weil das die Wahrscheinlichkeit von Manipulationen verringert und uns mehr Möglichkeiten gibt, den wirklich Bedürftigen zu helfen.
Welche Art der humanitären Hilfe leisten Sie?
Die Bedürfnisse haben sich in den letzten elf Monaten immer wieder verändert. In den ersten Tagen des Krieges haben wir vor allem dabei geholfen, Menschen zu evakuieren. Das konnten wir zwar nur sehr begrenzt tun, weil uns einfach die Mitarbeitenden fehlten. Aber wir haben den Menschen geholfen, wegzugehen und in der Ukraine oder im Ausland einen neuen Ort zum Leben zu finden. Es war eine eher individuelle Hilfe. Wir haben den Menschen Brot gebracht; und als es dann wieder Brot gab, haben wir Milch geliefert. Aktuell verteilen wir abgepackte Nahrungsmittel.
Wir versuchen nicht, möglichst große Lebensmittelpakete zu schnüren, sondern versuchen, diese so vielfältig wie möglich zu gestalten. Wir verteilen zum Beispiel keinen Reis, wie es das UN-Programm tut. Eine Zeit lang haben wir keine Nudeln mehr verteilt, weil die Nahrungsmittelpakete der UN sehr viele Nudeln enthielten. Im Frühjahr haben wir Medikamente verteilt. Aber im Laufe der Zeit war das nicht mehr notwendig, weil die Apotheken wieder geöffnet waren und es sehr kompliziert ist, Medikamente zu verteilen.
Wir helfen auch mit Wertgutscheinen. Derzeit haben wir ein Programm für 120 Menschen. Seit Mai organisieren wir Unterricht für die Kinder, helfen mit der Schularbeit und organisieren sogar Informatik-Unterricht.
Zusammen mit dem LWB haben Sie einige so genannte Wärmepunkte eingerichtet. Worum geht es dabei?
Diese Wärmepunkte sind eine Initiative in der gesamten Ukraine, die gestartet wurde, weil Russland seit dem Herbst systematisch unsere Infrastruktur angreift. Sie wollen die Menschen von der Versorgung mit Wärme und Nahrungsmitteln abschneiden. In den Wärmepunkten können sich die Menschen aufwärmen und ihre Handys aufladen. Manchmal gibt es auch Internetzugang oder es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, etwas zu essen.
Wenn es in der Stadt ruhig ist, sind diese Wärmepunkte leer. Wenn die Situation kritischer ist oder es keinen Strom gibt, kommen viele Menschen her. Und natürlich kommen auch viele Menschen, wenn wir hier Lebensmittel verteilen.
Was gibt Ihnen persönlich die Kraft, in diesem Krieg mit Ihrer Arbeit weiterzumachen?
Für mich persönlich liegt die Antwort auf der Hand: Alles, was wir tun, wurzelt in unserem Glauben. Der Glaube an Jesus Christus ist die wichtigste Motivation für mein Wirken. Der Glaube ruft uns auf, nicht gleichgültig zu sein und anderen Menschen helfen – aber mit Bedacht und Weitsicht. Ich sage gern: Es ist wichtig, den Menschen mit der Hilfe nicht zu schaden. Deshalb ist uns die direkte Hilfe für Menschen, mit denen wir direkt in Verbindung stehen, so wichtig.
Wir wollen vermeiden, neue Probleme zu schaffen, zum Beispiel, weil wir Sachen ausgeben, die die Menschen nicht brauchen können oder die dafür sorgen würden, dass sie ihre Unabhängigkeit verlieren und erwarten, dass immer jemand anderes für sie sorgt.
Was bedeutet es für Ihre Kirche, Ihre Arbeit und Sie persönlich, Teil der weltweiten Gemeinschaft von Kirchen zu sein?
Teil der lutherischen Kirchengemeinschaft zu sein ist in der Krise ganz besonders wichtig, weil es einem das Gefühl gibt, nicht allein vor dem Problem zu stehen, und das Gefühl, dass andere Menschen für dich beten, dir helfen und dir zuhören wollen.
Teil der lutherischen Kirchenfamilie zu sein ist in der Krise ganz besonders wichtig, weil es einem das Gefühl gibt, nicht allein vor dem Problem zu stehen und dass andere Menschen für dich beten, dir helfen und dir zuhören wollen.
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In den letzten Monaten haben wir viele neue Beziehungen aufgebaut. Es hat den Menschen geholfen, zu erfahren, wie sie am besten helfen können. Das bedeutet, nicht mit dem zu helfen, was ich geben möchte, sondern zu geben, was gebraucht wird, und auf die Menschen vor Ort zu hören.
LWB/C. Kästner-Meyer, Daniel Kiss (Hungarian Interchurch Aid). Englische Übersetzung: LWB/O. Batoryk