In meiner Stadt, der zweitgrößten der Ukraine, war es vom ersten Tag des Krieges an lebensgefährlich. Es gab nicht nur Raketenangriffe auf militärische Ziele, sondern auch Schüsse auf die zivile Infrastruktur und auf Zivilisten. Die Gewalt traf uns wirklich wie ein Schock. Unser Leben änderte sich radikal – innerhalb von nur drei, vier Tagen. Seither verbringen wir die Nächte unter der Erde: in Kellern und U-Bahn-Schächten.
Ich bin 39 Jahre alt und Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche für die gesamte Ukraine, ich habe Gemeinden auch in anderen Städten. Aber hier in Charkiw ist es am schlimmsten. Nicht nur im Norden der Stadt, der dem russischen Belgorod am nächsten liegt, sondern auch in anderen Stadtteilen gibt es brutale Zerstörungen, wagen sich die Menschen nicht mehr auf die Straße.
Alle, die konnten, sind ins Ausland geflohen oder wenigstens in die Westukraine. Unsere lutherische Himmelfahrts-Gemeinde hat ihre Kirche zwar am Stadtrand, in relativer Sicherheit. Aber auch meine Familie mit unseren Töchtern ist weg, sie leben nun bei Verwandten in Polen. Meine Frau hilft dort geflüchteten Gemeindemitgliedern, die wiederum anderen Flüchtlingen helfen.
Ich selber verbringe seit Kriegsbeginn die meiste Zeit des Tages auf der Straße. Ich helfe, Ausgebombte in Sicherheit zu bringen oder Essen zu verteilen. Aber das Wichtigste ist, bei den Menschen zu sein, ihnen zuzuhören, mit ihnen zu beten. Ich bete auch für Frieden in Berlin. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
Zur Waffe greifen darf ich als Bischof oder Pfarrer eigentlich nicht. Aber wir haben kein striktes Waffenverbot, und ich habe als junger Mann Militärdienst geleistet. Natürlich bin ich auch für unsere Soldaten da. Beschützt wird Charkiw vom ukrainischen Militär, vom Sicherheitsdienst der Ukraine, von der Landesverteidigung. Besonders dankbar bin ich unserer Armee und der Stadtverwaltung. Sie sorgen dafür, dass alle Brände gelöscht werden, dass wir Strom haben und dass es trotz Dauerbeschuss in den meisten Stadtteilen bislang keine humanitäre Katastrophe gab. Man kann einkaufen, allerdings mangelt es an bestimmten Medikamenten. Und die öffentlichen Verkehrsmittel sind lahmgelegt. Das Risiko, sie zu nutzen, ist einfach zu groß.
Wie sicher es ist, sich in der Stadt zu bewegen, das ändert sich ständig. Deshalb ist es mir auch nicht wichtig, wie viele unserer Gemeindemitglieder jetzt sonntags zur Kirche kommen. Gottesdienst findet zwar statt, aber wir haben keinen Luftschutzkeller. Die nicht zur Kirche kommen können, besuche ich.
Ob ich Angst habe, das ist schwer zu sagen. Es wechselt. Ich bin mir bewusst, dass ich, wenn ich einschlafe, vielleicht nicht mehr aufwache. Dass ich irgendwohin gehe und vielleicht nicht zurückkomme.
Kraft gibt mir jedoch mein Vertrauen in Gott. Die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen. Die Hilfe von Freunden und Bekannten. Und ich bin froh, dass so viele Kirchen im Ausland unseren Flüchtlingen helfen. Auch, dass militärische Hilfe aus dem Westen kommt. Ich wünsche mir, dass alle Kirchenoberhäupter klar sagen, wer in diesem Krieg Opfer und wer Täter ist. Am wichtigsten ist mir aber, dass dieser Krieg schnell endet.
Wir wollen einen gerechten Frieden. Und dazu gehört, die Wahrheit beim Namen zu nennen. – Die Ukraine hat provoziert? Nein, Russland hat angegriffen! Die russischen Propagandalügen müssen ein Ende haben. Und ich bin gegen die Preisgabe von Land und Leuten. Wir brauchen eine Kombination aus militärischen Maßnahmen und Verhandlungen. Aufgeben wäre falsch.
Bischof Pawlo Schwarz
Quelle: https://www.zeit.de/2022/15/ukraine-bischoefe-krieg-russland-religion/