Das interview mit Pfarrer Alexander Gross.
Wie hat ein Jahr Krieg die Menschen in der Ukraine verändert?
Die Menschen haben sich inzwischen an den häufigen Luftalarm gewöhnt. Große Angst hat niemand mehr, der Luftalarm stört viele Menschen eher, weil er ihre Pläne durchkreuzt und die Geschäfte geschlossen sind. Die Menschen haben gelernt mit dem Krieg zu leben. Das Luftverteidigungssystem funktioniert gut und es ist für die Russen jetzt viel schwerer geworden, die Energieversorgung der Ukraine zu zerstören. Trotzdem fällt an vielen Tagen der Strom aus, weil die Energie-Infrastruktur noch nicht überall repariert wurde. Wir haben aber Stromgeneratoren, um diese Zeit zu überbrücken.
Sind auch in Odessa viele Menschen geflüchtet?
In den ersten Monaten haben viele Familien die Ukraine verlassen. Wer deutsche Wurzeln hat, ist oft nach Deutschland ausgewandert. Das merken auch wir in unserer deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinde. Wir sind eine sehr kleine Gemeinde und vor dem Krieg sind nur wenige Menschen zu uns gekommen. In einigen Dörfern sind 80 Prozent der Gemeindemitglieder ausgewandert. Aber wir machen trotzdem weiter und helfen, wo wir können. Wir verteilen Lebensmittel und Medikamente, haben drei Häuser für Geflüchtete hergerichtet und leisten Sozialhilfe.
Wie groß ist nach einem Jahr noch die Hoffnung auf einen schnellen Sieg?
Alle hoffen, dass er Krieg so schnell wie möglich zu Ende ist. Alle brauchen Frieden. Aber die Menschen verstehen, dass der Krieg noch lange andauern kann. Deshalb sagt bei uns in Odessa auch niemand, dass die Kämpfe vielleicht im Frühling, Herbst oder in ein paar Monaten vorüber sein werden. Über das Ende des Krieges spricht inzwischen kaum jemand mehr.
Als wir im letzten Jahr miteinander gesprochen haben, wurde Ihre Gemeinde in Cherson gerade von russischer Besatzung befreit. Eine zweite Gemeinde war aber noch immer besetzt. Was hat sich seitdem verändert?
Nach der Befreiung der Gemeinde in Smijiwka in der Region Cherson am 11. November haben die Russen die Angriffe auf das Dorf fortgesetzt. Es liegt direkt am Fluss Dnipro und die Russen haben ihre Stellungen auf der anderen Seite des Ufers. Bis heute schießen die russischen Soldaten jeden Tag auf das Dorf und sorgen für Angst und Zerstörung. Es ist einfach sehr gefährlich dort, auch nach der Befreiung. Trinkwasser bekommen die Menschen aus Wassertanks. Seit Mitte Oktober gibt es auch keinen Strom, weil die Leitungen zerstört wurden. Viele Menschen leben dort aber weiterhin, auch 53 Kinder. Wir haben ihnen vor einiger Zeit einen großen Generator geschickt, damit sie wenigstens ein paar Stunden am Tag Strom haben.
Haben die Menschen Angst, dass die Russen wiederkommen?
Alle die Angst hatten, sind gleich nach der Befreiung geflohen. Heute lebt dort niemand mehr, der sich vor der Rückkehr der Russen fürchtet. Die Menschen in dem Ort sind sehr patriotisch und vertrauen der ukrainischen Armee. Außerdem kennen sie die Russen nach zehn Monaten Besatzung sehr gut, haben ein schlechtes Bild von ihnen und machen sich über sie lustig. Die russischen Soldaten sind Alkoholiker, sagen sie. Die saufen den ganzen Tag Alkohol, dann fahren sie mit dem Panzer durchs Dorf und zerstören wahllos Häuser. Das sind einfach Idioten. Gegen eine solche Armee wird die Ukraine gewinnen, sind sich die Menschen sicher.
In der Küstenstadt Berdjansk in Saporischschja ist eine ihrer Gemeinden immer noch unter russischer Besatzung.
Das stimmt, wir haben weiterhin Kontakt zu den Menschen dort. Unser Diakon dort hat mir erst letzte Woche von der Situation berichtet. Die Menschen haben große Angst, dass die Russen sie mobilisieren und sie dann gegen ukrainische Soldaten kämpfen müssen. Das ist die größte Angst der Menschen. In den Regionen Donezk und Luhansk und in vielen kleinen Städten haben die Russen bereits die Mobilisierung angeordnet. Viele Menschen sind im Krieg getötet worden.
Wie geht es den Menschen in der besetzten Stadt?
Die Menschen dort haben keine Rechte mehr. Sie leben in sehr großer Gefahr, wenn sie bei den Besatzern in Ungnade fallen. Es gibt eine russische Militärpolizei, die mit den Einwohnern macht, was sie will. Immer wieder werden Menschen gefangen genommen und verschwinden dann spurlos. Niemand weiß, wo sie sind. Manche werden einfach erschossen, andere lebendig begraben. Die Situation ist schrecklich, denn es gibt keine Regeln, kein Gericht und niemanden, an den sich die Menschen wenden können.
Was bedeutet das für Ihre Gemeinde?
Zu Beginn der Besatzung haben die Russen versucht, die Kirche zu schließen und uns das Gebäude wegzunehmen. Ich habe dann mit der russischen Kirche gesprochen und mich auch an den russischen Geheimdienst gewandt. Irgendwie konnten wir diese Probleme lösen, sodass unsere Gemeinde ihr Gebäude behalten und weiter Gottesdienst feiern kann. Wir haben sehr viel Glück, denn die Russen haben allen anderen Gemeinden die Gebäude weggenommen, wie den Baptisten, den Pfingstlern, der Griechisch-Katholischen Kirche und der Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats.
Was brauchen die Menschen, mit denen Sie sprechen, derzeit am dringendsten?
Es fehlt immer wieder an medizinischer Versorgung und an Medikamenten. Wir schicken immer wieder Medikamente in die zerstörten Städte, um den Menschen zu helfen. Die Kinder können nicht zur Schule gehen, weil die Schulgebäude zerbombt wurden. Ohne Strom und Internet können sie auch nicht am Online-Unterricht teilnehmen. Es fehlt an Geld und Baumaterial, um Schulen und Wohnhäuser wieder aufzubauen.
Wie gehen die Kinder mit dieser schwierigen Situation um?
Oft sieht man den Kindern nicht an, dass sie unter dem Krieg leiden. Schon die Corona-Pandemie hat zu einigen Veränderungen geführt, wie der Einführung des Online-Unterrichts. In einigen Bereichen sind die Unterschiede also gar nicht so groß. Für die Kinder ist der Krieg immer präsent. Immer wieder sehe ich Kinder, die mit Waffen umherlaufen und Krieg spielen. Sie bauen mit Sand oder Erde etwas nach, was sie im Internet oder im Fernsehen gesehen haben. Einige singen patriotische Lieder, wenn sie durch die Straßen laufen. Viele Väter müssen als Soldaten im Krieg kämpfen, das belastet die Kinder sehr. Aber die meisten sprechen nicht viel darüber.
Wie blicken die Menschen in die Zukunft?
Hier im Süden macht kaum jemand Pläne für die Zukunft. Die meisten denken nur ans Überleben. Wo finden sie Arbeit? Wo bekommen sie etwas zu essen? Zu uns kommen viele, die schlecht ausgebildet sind und aus sozial schwachen Familien stammen. Sie haben immer im Sommer an der Küste im Tourismus gearbeitet. Das Geld reichte für das ganze Jahr. Jetzt macht in der Ukraine niemand Urlaub am Meer und die Menschen wissen nicht, wovon sie sich etwas zu essen kaufen sollen. Wir helfen so gut wir können, damit niemand hungern muss.
Interview: Sven Christian Schulz