Kaum ein sozialethischer Themenbereich hat innerhalb der ökumenischen Welt so viel spaltende Sprengkraft wie die Fragen zu Gender und Sexualität. Auch deswegen hat die Vollversammlung der GEKE 2018 in Basel einen Studienprozess zu diesem Thema angeregt. Wenigstens unter evangelischen Kirchen in Europa könnte es doch leichter sein, mit dem Thema umzugehen. In einem Studienprozess sollten theologische Aussagen zu Gender, Sexualität, Ehe und Familie getroffen werden und das Bild vom protestantischen Korridor, wie es in früheren ethischen Orientierungshilfen der GEKE eingeführt wurde, weiterzuentwickeln.

Photo: A. Shakun

Eine Studiengruppe unter der Leitung von Ulla Schmidt, Mitglied im Rat der GEKE und Professorin für evangelische Theologie in Aarhus, hat dazu ein Studiendokument erarbeitet, das nicht nur vielfältige protestantische Antworten zu den gegebenen Fragen präsentieren, sondern auch grundlegende Konzepte und Theorien vorstellen und theologisch diskutieren möchte. Entstanden ist ein umfangreicher Text, der zur Anhörung im Herbst 2022 an die Mitgliedskirchen der GEKE versandt wurde.

Von 23. bis 25. Februar 2023 kamen dann in Dresden über 40 kirchliche Vertreter*innen zusammen, um den Entwurf des Studientextes zu diskutieren. Dies geschah vor allem in verschiedenen Arbeitsgruppen, in welchen die einzelnen Teile des Textes kritisch besprochen und Anmerkungen gesammelt wurden. Neben den Themenbereichen Gender, Sexualität, Ehe und Familie, denen der Text je ein eigenes Kapitel widmet, war auch Kirche, Sexualität und Gewalt ein Thema sowie die Frage nach dem konstruktiven Umgang mit ethischen Meinungsverschiedenheiten in und zwischen Kirchen.

Bei der Konsultation wurde schmerzlich deutlich, dass die Meinungsverschiedenheiten auch zwischen evangelischen Kirchen in Europa enorm sind, insbesondere bei der Frage von Seelsorge für LGBT+ Menschen. Viele Beteiligte formulierten Anfragen an das Konzept des protestantischen Korridors: Welches sind denn die Wände oder roten Linien des Korridors? Kann man mit dem Konzept noch arbeiten, wenn einzelne Positionen nicht nur verschieden, sondern punktuell sogar gegensätzlich sind?

Dennoch: das Studiendokument wird bereits jetzt für seine sensible Sprache und klare Haltung gegen Diskriminierung gelobt und mit Spannung wird die Endfassung erwartet.

Nach einer weiteren Phase der Überarbeitung im Lichte der Konsultation könnte der Rat der GEKE das Dokument noch im Herbst dieses Jahres zur Publikation freigeben. GEKE-Generalsekretär Mario Fischer, der die Moderation der Konsultation übernommen hatte, erinnerte schon zu Beginn daran, dass es sich um ein Studiendokument handelt, das also nicht einen Standpunkt der evangelischen Kirchen in Europa präsentiert oder gar verbindlich festschreibt; vielmehr soll das Dokument vor allem die Gespräche in den Mitgliedskirchen der GEKE zu den angesprochenen Themen unterstützen.

Die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche der Ukraine war bei den Beratungen durch Diakon Oleksandr Zhakun vertreten. „Obwohl ich glaube, dass das Koordinatensystem „Liberalismus-Konservatismus“ längst überholt ist, nahm ich in Diskussionen dennoch die Rolle eines bedingten „weißen konservativen Lutheraners aus einem postsowjetischen Land“ ein, was darauf hindeutet, dass dem nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird Osteuropäischer Kontext im Entwurfsdokument. Ich bin froh, dass wir mit den Mitgliedern des Arbeitskreises trotz der erheblichen Meinungsverschiedenheiten schnell eine gemeinsame Sprache gefunden haben und die Dynamik der Arbeit wunderbar war“, teilt Alexander seine Eindrücke.

Alexander Zhakun (Vordergrund) und seine englische Arbeitsgruppe zum Thema Gender.

Die Zukunft der Kirchengemeinschaft wird also auch nicht von diesem Dokument bzw. den ethischen Positionen zu den angesprochenen Themen abhängen. Diese Hoffnung kam auch zum Abschluss der Dresdner Konsultation zum Ausdruck, als die Delegierten trotz aller Meinungsverschiedenheiten gemeinsam das Abendmahl feierten.

Quelle