Im Völkerrecht versteht man unter einer Okkupation einen Vorgang, bei dem bewaffnete Truppen eines Agressor-Staats Gebiete eines anderen Staats besetzen. Eine Okkupation schadet in den meisten Fällen der Entwicklung sowohl des besetzten Gebiets, als auch der Entwicklung des Gebiets, das in Freiheit geblieben ist, weil das Land nicht über seine gesamten Ressourcen verfügen kann. Den umgekehrten Vorgang, bei dem die rechtmäßige Gebietshoheit über die vom Feind besetzten Gebiete wiederhergestellt wird, bezeichnet man als De-Okkupation.
Kann man erwarten, dass diese Begriffe auch für die Beschreibung der Vorgänge innerhalb der Deutschen Evangelisch-Luhterischen Kirche in der Ukraine (DELKU) aktuell werden? Im Jahr 2009 rekonstruierte die DELKU mit Hilfe der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und anderen Donoren den Kirchenkomplex in Odessa, in dem viele Räume zur Vermietung vorgesehen waren. Die Mieteinnahmen sollten die laufenden Aufgaben der Kirche finanzieren und haben die Abhängigkeit der DELKU von ausländischen Partnern deutlich verringert. Die DELKU entwickelte sich zielstrebig und wählte im Jahr 2013 einen tatkräftigen Pastor mit einer amerikanischen theologischen Ausbildung zum Bischof. Es hatte den Anschein, als stünde das Luthertum deutscher Tradition in der Ukraine an der Schwelle zu einer neuen Entwicklungsstufe.
Doch es kam, wie es kam. Wir wollen hier nicht erneut die Taten und Verbrechen von Serge Maschewski thematisieren, die dieser zwischen 2014 und 2018 beging. Darüber wurde schon viel geschrieben. Worauf es ankommt ist, dass die Mehrheit der DELKU-Gemeinden im Jahr 2018 Serge Maschewski das Misstrauen aussprach und ihn des Amtes enthob. Als neuer Leiter der Kirche und des Kirchenamts (Episkopats) wurde Pawlo Schwarz gewählt und auf legalem Wege im staatlichen Register eingetragen. Doch Serge Maschewski entschloss sich, bis zum Letzten an der Macht zu klammern. Auf undurchsichtigen Wegen tauchte er einige Tage später erneut im Register als Leiter des Kirchenamts der DELKU auf und erhielt somit die Kontrolle über die Immobilien der Kirche zurück, da diese in früheren Zeiten alle auf das Kirchenamt überschrieben worden waren. Dadurch entstand eine Situation, in welcher der rechtmäßige Bischof Pawlo Schwarz, den in dieser Funktion sowohl das Kultusministerium der Ukraine als auch die lutherische Weltgemeinschaft anerkannt haben, zusammen mit der Mehrzahl der DELKU-Gemeinden die Kontrolle über die kirchlichen Räumlichkeiten und sonstiges Kircheneigentum verloren, welches eigentlich der Verkündigung von Gottes Wort dienen sollte. Es begann eine echte Okkupation der Kirche.
Die Gemeinden in Peterstal, Saporischschja, Krywyj Rih, Bila Zerkwa und Poltawa wurden aus ihren Gemeinderäumen herausgeworfen. Gott sei Dank kam das kirchliche Leben dennoch nicht zum Erliegen, da die Kiewer St.-Katharinen-Kirche und die Christi-Erlöser-Kirche in Berdiansk sowie die Gebäude in Schlangendorf und Charkiw aus unterschiedlichen Gründen nicht ins Eigentum des Kirchenamts übergeben worden waren und die Gemeinden in Nowohradiwka, Schostka und die St.-Martins-Gemeinde in Kiew ohnehin daran gewohnt waren, ohne eigene Räumlichkeiten auszukommen. Allerdings traf es in Zeiten strenger Quarantänebestimmungen gerade jene Gemeinden besonders hart, die gezwungen waren, Säle für Gottesdienste zu mieten, da dies oft schlicht unmöglich war.
Das Eigentum, über das Serge Maschewski wieder die Kontrolle erlangt hatte, wurde entweder verkauft, wie dies mit den Dienstwohnungen in Odessa, Charkiw und Berdiansk und den Kirchenräumen in Saporischschja geschah, oder es wurde in einen bedauernwerten Zustand heruntergewirtschaftet. Einige andere Gemeinden unterstützten Serge Maschewski einfach deswegen, weil sie befürchteten, ebenfalls ihre Räumlichkeiten zu verlieren.
Das alles geschah vor dem Hintergrund zahlreicher Gerichtsverfahren, einer Reform des Verfahrens zur staatlichen Registrierung von Religionsgemeinden und -vereinigungen sowie der COVID-19-Epidemie. Diese Faktoren bremsten den Prozess bis zur endgültigen Anerkennung des neuen Leiters der Kirche durch den Staat aus. Doch am 15. Mai 2021, zweieinhalb Jahre später, erkannte ein neu geschaffenes Organ – der Staatliche Dienst der Ukraine für ethnische Politik und Bekenntnisfreiheit – Pawlo Schwarz als Leiter des Kirchenamts der DELKU an. Damit begann der Prozess der De-Okkupation der Kirche.
Dieser Prozess begann mit einem Audit der Tätigkeit von Serge Maschewski und der vorherigen Kirchenleitung. Bereits die ersten Ergebnisse schockierten. Erstens stellte sich heraus, dass Serge Maschewski und seine Frau Elena Hetman im Jahr 2020 drei Wohnungen im Zentrum von Odessa erworben hatten:
- wul. Nowoselskoho 19-A, Wohnung Nr. 11 (46,2 m²);
- wul. Nowoselskoho 60, Wohnung Nr. 7 (39,8 m²);
- prow. Astaschkyna 3, Wohnung Nr. 11 (69 m²).
Zweitens überwies Serge Maschewski, als er von dem Wechsel des Leiters des Kirchenamts erfuhr, jedoch noch über den elektronischen digitalen Unterschrift des Kirchenamts verfügte, auf das Konto der Deutschen Evangelisch-Lutherischen St.-Pauls-Gemeinde Odessa, die sich seit Vertreibung aller Gemeindemitglieder mit abweichender Meinung im Jahr 2015 unter seiner vollständigen Kontrolle befand, eine Summe von 443 600 UAH (16 200 US-$).
Drittens, was etwas später bekannt wurde, überwies er im Mai dieses Jahres 1 000 000 UAH (36 500 US-$) an die Deutsche Evangelisch-Lutherische St.-Katharinen-Gemeinde in Dnipro und 630 570 UAH (23 000 US-$) an eine fiktive Evangelisch-Lutherische Gemeinde in Odessa, deren Leitung niemand anderes inne hat als die Ehefrau von Serge Maschewski, Elena Hetman.
Allein in den vergangen Monaten hat sich das Ehepaar Maschewski derart bereichert, dass es drei Wohnungen erwerben konnte und die Kasse der DELKU um mehr als 2 Millionen UAH (72 700 US-$) erleichterte! Doch dem Schmarotzen am Kircheneigentum wurde ein Ende gesetzt.
Als erste kehrte die Gemeinde in Peterstal in ihre kirchlichen Räumlichkeiten zurück. Nach vier Wochen intensiver Arbeiten an der Reperatur der Versorgungsleitungen und der Wiederherstellung eines ordentlichen Erscheinungsbildes wenigstens des Gottesdienstraums konnte die Gemeinde am 27. Juni ihre Rückkehr mit einem Festgottesdienst feiern.
Zwei Tage später, am 29. Juni erlange die DELKU die Kontrolle über den Kirchenkomplex in Odessa zurück. Zuvor hatten Bischof Schwarz und die Kirchenleitung sich mehrmals direkt sowohl an Serge Maschewski als auch an die Mitarbeiter der Kanzlei und an den Gemeindrat von St. Paul gewandt und zum Dialog aufgerufen. Doch alle Gesprächsangebote wurden ausgeschlagen. Deswegen beschloss die Kirchenleitung, ihre Eigentumsrechte durchzusetzen, um Zugang zu den Büroräumen und den Dokumenten zu erlangen. Die Wiederherstellung der Kontrolle wurde von Provokationen seitens Serge Maschewski und seiner Anhänger begleitet, welche versuchten, sich im Büro der Kanzlei zu verbarrikadieren, und das Wachpersonal angriffen, als sie herausgeführt wurden.
Der Gemeinderat von St. Paul liess sich nicht auf einen Dialog mit der Kirchenleitung über die Nutzung der Kirchenräume für Gottesdienste ein. Deswegen übernahm die DELKU-Kirchenleitung die Verwantwortung für die Wiederherstellung der Gottesdienste in Odessa und ernannte Alexander Gross zum einstweiligen Pfarrer der Gemeinde. Bischof Schwarz berief außerdem in Ausübung seiner satzungsgemäße Rechte für den 1. August eine Gemeindeversammlung ein, auf der die Lage geklärt werden soll, und bot allen, deren die Gemeindemitglieschaft unrechtmäßig entzogen wurde, an, sich an ihn zu wenden, um ihre Rechte als Gemeindemitglieder wiederherzustellen.
In der gleichen Woche kehrte die Gemeinde in Bila Zerkwa in ihr Gemeindehaus zurück, und kurz darauf auch die Gemeinde in Kriwyj Rih. Während in Bila Zerkwa nur das Grundstück um das Gemeindehaus verwahrlost war, fand man in Kriwyj Rih, wo im Gemeindehaus der Sohn von Andrei Kusnzow – einem Mitstreiter von Serge Machewski – hauste, dutzende leerer Flaschen hochprozentigen Alkohols, und an den Wänden und auf dem Boden waren Spuren von Urin und Extrementen. Man kann nur vermuten, was sich dort abspielte, wo eigentlich das Evangelium verkündigt werden sollte …
Ebenfalls begannen nun Gemeinden zurückzukehren, die Serge Maschewski bisher unterstützt hatten, weil sie Angst hatten, ihre Räumlichkeiten zu verlieren. So wurden die Beziehungen mit der Gemeinde der Stadt Oleksandriia im Oblast Kyrowograd wiederaufgenommen. Auf Anweisung des Bischofs wird sie nun von Pastor Oleg Fischer betreut.
Der Vorgang der De-Okkupation ist noch lang nicht zu Ende. Der Gemeinde in Poltawa ist es bis jetzt noch nicht gelungen, nach Hause zurückzukehren. Die Gemeinden in Lwiw, Winnyza, Dnipro und Cherson, die Räumlichkeiten im Eigentum der DELKU benutzen, entziehen sich weiterhin dem Dialog. Auf gleiche Weise verhalten sich auch die Gemeinden in Luzk sowie in der Stadt Losowa im Oblast Charkiw. Eine besondere Situation besteht auch noch in Mykolajiw, wo die Gemeinde schon lange den Kontakt mit der DELKU verweigert, obwohl sie weiterhin Teil der DELKU ist.
Vor dem Bischof und der Kirchenleitung liegt noch viel Arbeit. Die Wunden, die Serge Maschewski der DELKU zugefügt hat, sind noch offen, und zu ihrer Heilung braucht es nicht nur Zeit und menschliches Bemühen, sondern auch der Mitwirkung Gottes. Deswegen müssen wir alle lernen, zu verzeihen und jene anzunehmen, die sich von uns unterscheiden – die eine andere Meinung haben, ein anderes Temperament und andere Lebenserfahrungen, andere Verletzungen erlebt haben oder einfach unglücklicherweise „auf der falschen Seite“ des Konflikts standen.
Diese Zeit der Prüfungen hat gezeigt, dass die DELKU Reformen braucht, die die Probleme lösen, die de-fakto zur Spaltung geführt haben: Unkenntnis der eigenen theologischen Lehren und kirchlichen Traditionen, Abwesenheit einer gemeinsamen Vision von der Entwicklung der Kirche, Intransparenz und eine Kommunikationskrise, die zu Misstrauen untereinander geführt haben, und vieles mehr. Als „Fahrplan“ für die erforderlichen Reformen dient ein Dokument, das die Synode im Jahr 2020 beschloss. Das Dokument enthält eine Formulierung der Mission, der Ansichten und der Werte der DELKU. Was das ist, und wie es sich in Zukunft auf das kirchliche Leben auswirken wird, wird im nächsten Artikel detailliert beschrieben werden.